Sternstunde

Sternstunde

von Luca Grossauer (10. Klasse)

Linea war siebzehn Jahre alt, hatte mittellanges dunkelbraunes Haar, ein eher blasses, diamantförmiges Gesicht, mit großen strahlend blauen Augen, die von leichten Augenringen unterstrichen wurden. Sie hatte eine kleine etwas spitze Nase und feine rosa Lippen. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in einer mittelgroßen gemütlichen Wohnung. In der sie jedoch kaum war da sie mit ihrer Mutter immer nur stritt und ihr dreizehnjähriger Bruder ihr nur auf die Nerven ging. Sie war ständig mit Freunden unterwegs, schlief kaum und ging so gut wie gar nie zur Schule. Ihre Noten wurden immer schlechter. Einer der Hauptgründe für die Streite mit ihrer Mutter. Im letzten großen Streit ging es ebenfalls darum. Lineas Mutter meinte, dass es so nicht mehr weiter gehe, dass sie sich zusammenreißen müsse, da sie sich so ihr ganzes Leben kaputt machen würde. Linea wollte nicht an ihre Zukunft denken, sie lebte jetzt und wollte ihr Leben genießen, solange sie noch konnte. Das schrie sie ihrer Mutter auch ins Gesicht. Sie rannte aus der Wohnung. Die kalten, leeren Straßen entlang. Es war dunkel nur das matte Licht der Laternen und der volle Mond erleuchteten die Straßen. Sie überlegte überhaupt nicht, wohin sie lief, ihr Kopf war voller Gedanken. Sie verstand ihre Mutter einfach nicht, wieso wollte sie sie nicht verstehen? Linea vermisste die alten Zeiten, als sie und ihre Mutter sich verstanden und über alles reden und lachen konnten. Doch das war noch bevor ihr Vater vor drei Jahren gestorben war. Linea wurde langsamer, die Kalte Luft stach in ihrer Lunge. Sie sah sich um, sie hatte die Orientierung vollkommen verloren. Sie stand mitten auf einer großen Blumenwiese, umgeben von großen dunklen Bäumen. Die Blumen schaukelten leicht in einer kalten Brise und schimmerten silbern im schwachen Mondlicht. Etwas weiter erkannte sie einen kleinen See, die Sterne spiegelten sich auf seiner ruhigen Oberfläche. Sie setzte sich an sein Ufer und sah ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab. Sie tropfte auf die Wasseroberfläche. Es war totenstill, Linea lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie versuchte aufzustehen, rutschte jedoch aus und merkte noch, wie sie fiel. Ihr Herz blieb für einen kurzen Moment stehen und sie hielt den Atem an. Sie erwartete die eisige Kälte und Nässe auf ihrer Haut zu spüren, doch nichts davon geschah. Im Gegenteil: Ein rötlich warmes Licht fiel auf ihre geschlossenen Lider. Sie öffnete die Augen und fand sich auf derselben Lichtung wieder, doch etwas war anders. Sie saß nicht mehr in der erdrückenden Kälte unter dem Sternenhimmel. Sie befand sich nun auf einer wunderschönen Blumenwiese. Alles war voller Farben, Düfte und Klänge. Die Sonne streifte angenehm warm ihre Haut. Angst und Verwunderung waren auf einmal verschwunden. Trotz dieses seltsamen Ereignisses fühlte sie sich wohl und geborgen. Sie stand auf und sah sich um. Sie nahm alles viel stärker und intensiver war als sie es gewohnt war, als würde sie dies alles zum ersten Mal sehen. Die Farben waren grell und strahlend, es roch angenehm süß nach Sommer, Blumen, frisch gemähtem Gras, nach Wasser und ein wenig nach Schlamm. Sie war aufmerksam; sie war präsent. Sie hatte sich lange nicht mehr so gefühlt. Das alles erinnerte sie an ihre Kindheit. Als sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder an ihren Lieblingssee gefahren waren und Tage lang dort verbracht hatten. Alles war so sorgenlos und einfach gewesen. Sie lächelte stumm, sie hatte lange nicht mehr an diese Zeiten zurückgedacht.

Plötzlich verspürte sie einen überwältigenden Drang ins Wasser zu springen. Sie zog sich also die Kleider aus und setzte einen Fuß ins Wasser, es bildeten sich kleine Wellen und warmer Schlamm stieg auf. Als das Wasser sich wieder beruhigt hatte, konnte sie wieder ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche erkennen. Sie sah es sich entsetzt an. Sie war nicht sie selbst. Sie war uralt, ihr Gesicht wirke freudenlos und verfallen, ihre Augen schauten traurig und gebrochen zu ihr hoch. Da kam plötzlich ein eiskalter Wind auf, sie fing an zu schreien, doch sie konnte sich nicht bewegen. Die Schatten der Bäume kamen immer näher und krochen langsam ihren Rücken hinauf. Sie konnte nicht mehr atmen, nicht mehr schreien. Sie verspürte einen harten Stich in ihrer Brust. Als wäre dort ein großes schwarzes Loch, das nicht gefüllt werden konnte.

Da vernahm sie eine tiefe raue Stimme. Sie summte eine schöne Melodie. Linea erkannte sie es war ihr liebstes Kinderlied. Da erkannte sie auch die Stimme, es war die ihres Vaters. Die sanfte warme Stimme umfing sie. Die Schatten und die Kälte zogen sich zurück und sie befand sich wieder auf der wunderschönen Wiese. Ihr Vater stand da und hielt sie fest im Arm. Sie zog seinen fast schon vergessenen Duft ein und begann zu weinen. Es war ein schmerzerfülltes leidendes Weinen. Als sie wieder etwas ruhiger geworden war, sah sie ihm in die warmen braunen Augen und sagte ihm, dass sie ihn vermisst hatte. Sie erzählte ihm, dass sie Angst hatte, Angst nicht genug zu sein, Angst alle zu enttäuschen. Und dass sie besonders sich selbst schon enttäuschte hatte. Angst alles nicht hinzubekommen. Sie meinte, dass sie das Gefühl hatte nicht mehr richtig zu leben. Dass alles nur an ihr vorbeizöge. Die Zeit verging viel zu schnell. Sie sagte, sie hätte Angst, dass dieses Gefühl immer stärker würde, je älter sie werde. Sie meinte, sie hätte das Gefühl, dass ihr das Leben entrinne, je fester sie versuchte daran festzuhalten.

Ihr Vater blickte ihr ernst und tief in die Augen. Er meinte, dass sie wunderbar und stark sei. Und er wusste, dass sie es schaffen würde, sie brauche nur an sich selbst zu glauben. Linea rannen wieder heiße Tränen über die Wangen; sie schüttelte ungläubig den Kopf. Er hielt sie fest im Arm, gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er flüsterte ihr nochmals zu, dass sie so perfekt sei, wie sie ist und dass alles gut werden würde. Da verspürte Linea einen Funken Hoffnung; sie spürte, dass er an sie glaubte, und sie wollte es auch versuchen. Sie lächelte und sagte: ,,Danke!“. Der Griff ihres Vaters lockerte sich und sie ließen sich los. Sie lächelten sich ein letztes Mal an, danach zerfiel er in tausende in der Sonne glitzernde Wassertröpfchen, die sich mit dem Seewasser vermischten.

Linea war immer noch etwas taub von den vielen Tränen und schmeckte das Salz in ihrem Mund, doch sie hatte Hoffnung. Sie sah sich ein letztes Mal auf diesem wundersamen Ort um und ließ sich rückwärts in das warme Wasser fallen. Sie öffnete die Augen und fand sich vor der Straße ihrer Wohnung wieder. Die Sonne ging gerade auf, es war frisch und der Himmel färbte sich im Morgenrot. Sie schloss die Tür zur Wohnung auf, es fiel ihr schwer, da ihre Finger vor Kälte steif waren. Als sie die Tür öffnete, sah sie ihre Mutter im Flur am Boden sitzen. Linea rannte zu ihr, nahm sie in den Arm und entschuldigte sich. Sie meinte zu ihrer Mutter, dass sie sie unfassbar lieb hatte und dass sie hoffe, dass sie dies wisse. Sie saßen gemeinsam im kühlen Flur, hielten sich im Arm und weinten auf eine erleichterte Art und Weise. Sie waren glücklich, sie hatten einander wieder gefunden.

 

 

Titelbild: Klemen Vrankar/Unsplash