Der bußfertige Wolf

Der bußfertige Wolf

von Selina Hladin (11. Klasse)

Erschöpft setzt sie sich auf eine Parkbank. Um sie herum ist alles laut, hell und hektisch. Sie sieht Männer in Anzügen, junge Frauen, Autofahrer und Fahrradfahrer an ihr vorbeieilen. All diese Menschen sind so im Stress, dass sie nichts von ihrer Umgebung mitbekommen. Da! Etwas in dem ganzen Chaos zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Dort, neben dem Brunnen kann ein Junge gerade noch rechtzeitig einem fahrenden Auto ausweichen. Der Fahrer brüllt den Jungen verärgert an und fährt weiter. Oder hier: Ein kleines Mädchen wird von ihrer Mutter im Buggy durch die Menge geschoben. Das Mädchen hält einen kleinen Stoffbären in den Händen. Sie schaut den beiden nach. Doch auf einmal verschwinden sie in der strömenden Menschenmasse. Noch einmal blickt sie zu der Stelle, an der die Mutter mit ihrem Kind noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte. Da auf dem Asphalt liegt doch der Stoffbär des kleinen Mädchens! Sie steht auf und eilt zu dem Bären. Sanft nimmt sie ihn in die Hände. Kaum, dass sie den Bären berührt, fühlt es sich so an, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. Sie sieht Bilder aus ihrer Kindheit. Ihr zweijähriges Ich sitzt in einem Buggy und hat ihren geliebten Bären in der Hand. Plötzlich ist der Bär weg, und sie schaut auf ihre leeren Hände. Ein Gefühl der Trauer überkommt das Mädchen und sie schließt ihre Augen.

Als sie ihre Augen wieder öffnet, ist alles um sie herum still. Die Kleine sitzt weder im Buggy, noch steht sie in der Menschenmenge. Sie schaut sich verwundert um. Statt der Menschen umgeben sie viele leuchtende Blumen. So steht sie nun fassungslos da, und starrt in den Himmel. Nach ein paar Augenblicken fühlt sie etwas Kaltes, Nasses an ihrem Rücken. Langsam dreht sie sich um. Da ist überall Nebel. Aber nicht der Nebel, der manchmal im Sommer am Morgen über den Wiesen liegt, nein, dieser ist anders. Ganz schwer, grau und kalt. Es fühlt sich an, als griffen viele kalte Hände nach ihr. Ein kalter Schauer durchfährt das Mädchen. Sie möchte nur noch weg von hier! Der einzig mögliche Weg, dem zu entkommen, war der Wald. Also läuft sie los. Weiter, immer weiter, tiefer und tiefer in den Wald hinein. Wie aus dem Nichts taucht ein breiter Baum vor ihr auf. Sie will bremsen, doch sie stolpert beim Versuch. Noch ganz außer Atem rappelt sie sich auf. Sie schmeckt Blut an ihren Lippen. Ihre Hand sucht etwas, an dem sie sich festhalten kann, doch das, was sie zu fassen bekommt, ist glitschig und kalt! Das Etwas schreit gequält auf: „Aua! Das tut weh!“ Erschrocken schaut das Mädchen nach unten. Da liegt doch tatsächlich ein blauer Schleimhaufen am Waldboden! „Wa.. was…, wer bist du..?“, stammelt die Kleine. „Wer ich bin?!“ „Die Frage lautet wohl eher: Wer bist du!?“  Der Schleim sieht, dass das Mädchen Angst hat. „Hey, hey. Ich tu dir nichts. Versprochen.“

Mädchen und Schleim, dessen Name Rimuru ist, streifen gemeinsam durch den farbefrohen Wald. Nach einiger Zeit des stillen Wanderns wird der Wald um sie herum immer dunkler. Schlagartig verändert sich die Energie im Wald. Die beiden, – sie haben sich mittlerweile angefreundet – , hören ein Rascheln und einen dumpfen Aufprall. Vor ihnen erscheint ein pferdeähnliches Tier. Es starrt die beiden mit funkelnden, blutroten Augen an. Nun zittert der Schleim merklich. Er flüstert dem Mädchen mit dünner Stimme zu: „Ddd..da.. das ist ein Tesfar.. Diese Tiere sind schrecklich gefährlich!“ Das Mädchen schreit auf, dreht sich um, und rennt so schnell sie kann. Nur kurz schaut sie über die Schulter nach hinten. So bemerkt sie nicht, dass sie geradewegs auf eine tiefe Schlucht zuhält. Ehe sie es sich versieht, hat sie keinen Boden mehr unter den Füßen. Das Mädchen stürzt. Je tiefer sie fällt, desto weniger Luft bekommt sie. Ihr wird schon schwarz vor Augen, als sie etwas an den Schultern packt. Der Tesfar ist ihr hinterhergestürzt, um sie zu retten. Dabei sind die Dämpfe in der Schlucht für ihn um ein Vielfaches gefährlicher als für Menschen. Mit letzter Kraft legt der Tesfar das Mädchen auf den Waldboden, sobald sie wieder aus der Schlucht kamen. In der nächsten Sekunde liegt das mutige Tier auf dem Boden, zittert, und versucht röchelnd Luft zu bekommen. Ein blauer Blitz fährt über den Boden, als der kleine blaue Schleim zum Mädchen eilt. Er berührt das Mädchen und beginnt seine heilenden Kräfte durch den Körper des Mädchens fließen zu lassen. „Rette nicht mich, rette den Tesfaren“, bittet das Mädchen. Dann verliert sie das Bewusstsein.

Nach einiger Zeit kommt sie wieder zu sich. Der erschöpfte Schleim liegt neben ihr und beobachtet sie. Benommen öffnet sie ihre, noch schweren Augenlider, und erstarrt. Vor ihr sind zwei blutrote Augen! Das Wesen, dessen Augen es sind bewegt sich ein Stück nach hinten. So erkennt die Kleine erleichtert, dass es die Augen des Tesfaren sind. Neugierig geworden schaut sich das Mädchen das Tier genauer an. Es schaut ja gar nicht böse aus. Eher traurig und einsam, denkt sie. Mit langsamen Schritten geht sie auf das Fabelwesen zu. „Du siehst ja gar nicht gut aus. Ist es wegen der Schlucht?“ Doch anstatt zu antworten, schnaubt der Tesfar nur, und bedeutet den beiden, ihm zu folgen. Zögerlich folgen die zwei dem sonderbaren Wesen durch den Wald. Es führt sie durch einen dicken Vorhang aus Efeu. Auf der anderen Seite erblicken sie eine kleine moosbedeckte Lichtung, auf der noch mehrere Tesfare stehen. Etwas weiter hinten, auf einem weichen Blätterhaufen liegt ein besonders großer Tesfar. Er schaut sehr alt und abgemagert aus. „Wer ist das?“, fragt das Mädchen mehr zu sich selbst. Doch eine tiefe, rauchige Stimme antwortet ihr. „Das ist unsere Mutter.“ Verängstigt zuckt das Mädchen zusammen. Woher kam diese Stimme?! Das Mädchen schaut sich um. Die Stimme scheint tatsächlich von dem Tier vor ihr zu kommen, dem Tesfar, der sie hierher gebracht hat. Behutsam geht sie auf den Blätterhaufen zu.

Der Tesfar, der vor ihr liegt, schaut noch schlimmer aus als die anderen! Er besteht wirklich nur noch aus Haut und Knochen, seine Flügel sind grau und haben viele Federn verloren. Sein Fell ist ganz verklebt und matt. Sie schaut genau hin, und da fällt ihr auf, dass in der Brust des einstmals schönen Pferdes ein großes Loch klafft. Jetzt erkennt sie auch, was das Fell verklebt. Es ist Blut! Ihr wird schlecht. Nachdem sie sich einigermaßen von dem Schock des Anblickes erholt hat, dreht sie sich um und sieht den hinter ihr stehenden Tesfaren an. „Wer hat euch das angetan?“, fragt sie mit dünner zitternder Stimme. Der Tesfar antwortet ihr nach einer kurzen Pause zögernd: „Das war >Der Schatten<.“ „Wer ist das?“, erkundigt sich das Mädchen. Mit leiser, rauer Stimme meldet sich ein Tesfar, der bis jetzt ganz still im Hintergrund geblieben war. „>Der Schatten< ist riesengroß und sehr gefährlich. Kein Wesen hier hat sich je in seine Nähe gewagt. Also kann keiner genau sagen, wie er aussieht.“ „Und wenn das Herz nicht bald wieder bei ihr ist“, das Mädchen deutet auf den sterbenden Tesfaren, „dann stirbt sie, und ihr alle mit ihr, oder?“ Die umstehenden Tesfaren nicken traurig. „Ich werde das Herz suchen!“ Kurz nachdem das letzte Wort ihre Lippen verlassen hat, fühlt sie ein starkes Gefühl in ihrem Herzen. Es zieht das Mädchen nach Norden. Sie weiß, sie würde Hilfe brauchen. So bittet sie den kleinen Schleim und den Tesfaren, der sie gerettet hatte, sie zu begleiten. Einer der alten, weisen Tesfaren tritt langsam hervor und meldet sich zu Wort: „Das schafft ihr nur, wenn ihr euch ganz vertraut.“

Zu dritt machen sie sich sofort auf den Weg nach Norden. Dort sollte das Herz sein. Nach drei Tagen und drei Nächten beschwerlicher Reise gelangen die Freunde an den Fuß eines riesigen Berges. Entmutigt schaut der Schleim empor und murmelt: „Da kommen wir doch niemals hinauf…“ Da meldet sich der Tesfar zu Wort: „Ich habe doch Flügel. Allerdings habe ich noch nie solch ein Gewicht getragen, noch bin ich so hoch geflogen. Doch ich werde es versuchen.“ Der Tesfar geht in die Knie, sodass das Mädchen und der kleine blaue Schleim auf seinen Rücken steigen können. Langsam und bedächtig erhebt sich das Tier und steigt empor. Anfangs ist es noch sehr ungewohnt für alle, doch mit der Zeit wird das Gefühl der Unsicherheit immer weniger. Allmählich wird es immer steiler. Schlagartig kommen starke Winde auf, die die Freunde fast abstürzen lassen. Um dies zu verhindern, vergrößert der Schleim seine Größe. Nun umschließen den Tesfaren und das Mädchen eine verbindende Schicht aus blauem Schleim. Auf ihrem Flug den Berg empor werden sie fast von gigantischen Felsbrocken erschlagen, die sich von dem Berg gelöst hatten. Doch dank den guten Augen des Mädchens und den schnellen Reflexen des Tesfaren können sie diesen ausweichen. So verbunden kommen die Freunde unbeschadet den von Nebel umgebenen Berg hinauf. Langsam lichtet sich auch der Nebel und gibt die Sicht auf eine Plattform und eine Höhle frei. Der Tesfar landet sanft auf der steinernen Plattform und lässt seine Freunde absteigen. Sie stehen vor einer dunklen Höhle. Langsam gewöhnen sich die Augen des Mädchens an die Dunkelheit, und sie erkennt einen leichten roten Schimmer, der aus dem Inneren der Höhle zu kommen scheint. Sie möchte schon hinein gehen, doch da zieht sie der Tesfar mit seinem Maul zurück. Denn er hatte bemerkt, dass etwas im Schatten der Steinmauern lauerte. Etwas sehr Großes. Ein tiefes Knurren erklingt und das Etwas kommt langsam aus seinem Schattenversteck geschlichen. Es baut sich groß im Eingang der Höhle auf. Es wird von hinten mit dem dunkelroten Licht des Herzens beschienen. In dem roten Schein des Herzens kann man die Umrisse eines riesigen Wolfes erkennen. Da steht er nun zähnefletschend und knurrend vor den ungebetenen Gästen. Aus seiner Kehle erklingt eine tiefe, angsteinflößende Stimme: „Was wollt ihr hier?“ Als ihm keiner antwortet, schnellt er nach vorne, und will den dreien einen kräftigen Prankenhieb verpassen. „Wir wollen dir nichts tun“, versichert ihm das Mädchen. „Wie heißt du?“, fragt sie den Wolf mit sanfter Stimme. Immer noch auf der Hut zieht das riesige Tier seine Pranke ein. Er antwortet verwundert und unsicher „Mein Name ist Faolan.“ „Und wer genau seid ihr überhaupt, und warum seid ihr sonst hierher gekommen?“  „Wir“, das Mädchen zeigt auf sich und ihre Begleiter, „sind hierher gekommen, weil wir etwas ganz dringend brauchen, von dem wir denken, dass du es hast.“ „Und was sollte das bitte sein?“, fragt der Wolf nun skeptisch. Langsam und ruhig erklärt das mutige Mädchen, dass der Wolf das Herz des ältesten Tesfaren habe, und sie es dem Ältesten zurückbringen müssten, da er sonst sterben würde. Und mit ihm würde nach und nach auch das ganze Leben aus dem Wald weichen.“ Das Mädchen blickt den Wolf an. Etwas an seinem Blick hatte sich geändert. Nach Augenblicken des Schweigens dreht sich der Wolf um und verschwindet im Dunkeln der Höhle. Nach kurzer Zeit kommt er allerdings wieder zum Vorschein. Er trägt das Herz behutsam im Maul! Behutsam übergibt er es dem kleinen Schleim. Der öffnet sich, und lässt es in seinem Körper verschwinden. Nun kann dem Herz nichts passieren. Auf den Rückweg machen sie sich nun nicht mehr zu dritt, nein zu viert, denn der Wolf begleitet sie.

Als sie wieder vor dem efeubehangenen Eingang zur Wiese der Tesfare stehen, stockt der Wolf. „Hey. Was ist denn los?“ möchte der Tesfar wissen. „Ich kann nicht mitkommen. Ich habe euch so viel Böses angetan.“ „Natürlich kannst du das. Wenn du das Herz wieder zurückgibst, ist dir alles vergeben.“ Der große Wolf schaut den Tesfaren ungläubig und zweifelnd an, aber gibt kein Wort mehr von sich. Gemeinsam geht die Gruppe durch den Vorhang zu der Tesfarenherde. Angst verbreitet sich unter den anwesenden Tesfaren, als sie den Wolf bemerken. Doch das Mädchen bedeutet ihnen mit einem Zeichen, dass sie keine Angst haben müssten, und nun alles gut werden würde. Zögernd geht der Wolf, der das Herz zuvor von dem Schleim zurückbekommen hatte, auf den im Gras liegenden Tesfaren zu. Vor ihm angekommen senkt er sein Haupt und legt das Herz vorsichtig an seinen ursprünglichen Platz zurück. Kaum ist das Herz wieder dort, wo es hingehört, schließt sich das Loch und der alte Tesfar leuchtet auf. Als das Licht, das von dem Herzen ausgegangen war, verschwindet hatte sich die Umgebung komplett verändert. Alles leuchtet bunt, und die zuvor schrecklich abgemagerten, fast schwarzen Tesfaren, stehen nun als starke, erhabene Einhörner auf der Wiese. Ihre Flügel fangen und spiegeln das Licht, sodass alles um sie herum in leuchtenden, bunten Farben erstrahlt. Die Älteste kommt zu dem Mädchen und dem Wolf. Sie senkt ihr Haupt und bedankt sich: „Ich bedanke mich bei dir, ohne dich hätte ich mein Herz nie wiederbekommen.“ Und zum Wolf gewandt spricht das prachtvolle Pferd: „Und dir danke ich auch. Danke, dass du mir mein Herz wiedergegeben hast.“ Der Tesfar, der das Mädchen auf ihrer Reise begleitet hatte, mittlerweile auch ein stattliches weißes Einhorn, dreht sich zur Mutter. „Ich habe eine Bitte an dich. Bitte nimm das Mädchen, den Schleim und den Wolf in die Familie auf.“ Die Mutter blickt mit freundlichen Augen auf Wolf, Schleim und Mädchen. „So sei es. Willkommen in unserer Familie.“ „Faolan und Rimuru, ihr habt schon einen Namen, doch du noch nicht, meine Kleine. Von nun an, sollst du Selina heißen.“

Mit Tränen in den Augen bedankt sich Selina. Langsam und schüchtern kommt ein ganz kleiner junger Tesfar auf Selina zu. Der kleine hat etwas im Maul, das er dem Mädchen vor die Füße legt. Selina möchte sich das Geschenk genau anschauen und bückt sich. Es ist ein kleiner Stoffbär. Langsam realisiert sie, dass sie diesen Bären kennt. Das war doch tatsächlich derselbe Bär den sie als kleines Kind verloren hatte. Sie musste lächeln. Ihr wird ganz warm ums Herz, als sie den Bären noch fester an sich drückt. Mit geschlossenen Augen steht sie nun auf der Wiese, zwischen all den wunderbaren Wesen. Als sie ihre Augen nach ein paar Momenten der Stille wieder öffnet, hat sich die Umgebung um sie vollkommen verändert. Das Mädchen steht mitten in der lärmenden Menschenmenge an der Straße. Nur diesmal ist ihr Bär bei ihr.

 

Titelbild: Gregoire Bertaud/Unsplash