Die Quelle unter den Eichen
von Madita Kirnbauer (11. Klasse)
Einst, vor langer Zeit, in einer Kultur, in der der Glaube an Geister und Feen, Elfen, Werwölfe und andere Fabelwesen in der Gedankenwelt der Menschen noch Platz hatte und als Märchen noch mehr waren als nur Wörter auf einem Stück Papier, da begab es sich von Zeit zu Zeit, dass sich die Grenze zwischen der menschlichen Welt und der Welt der Märchen und Fabelwesen lichtete und überschritten wurde. Das Märchen, das ich euch erzählen möchte, handelt von einer solchen Grenzüberschreitung in jener fernen Zeit, in der Träume Wirklichkeit wurden und Geschichten zum Leben erwachten, solange sie vom Glauben der Menschen gestärkt und durch Erzählungen in Erinnerung gehalten wurden.
Die Nacht, in der sich unser Märchen zutrug, war eine kalte Herbstnacht. Draußen stiegen dichte, graue Nebelschwaden von den Wiesen und Feldern empor und ließen die Landschaft in einer dicken Hülle aus kalter Nässe und weißem Mondlicht verschwinden. In dem Bauernhäuschen, in dem alles begann, wurde die letzte Kerze gelöscht und die Familie begab sich zur Ruhe.
Die Jüngste der Familie hieß Lisa und sie war erst acht Jahre alt. Den ganzen Tag hatte sie mit ihrer Familie auf dem Feld gearbeitet, um die letzten Ernten einzuholen, bevor der Winter kam. Lisa lag zwischen zwei ihrer größeren Schwestern, mit denen sie sich ein Bett teilte, und versuchte zu schlafen. Immer wieder wanderte ihr Blick zu dem kleinen Fenster, hinter dessen schmutziger Scheibe sie verschwommene Schatten sehen konnte, die sich bewegten, als würden sie tanzen. Das kleine Mädchen dachte an all die Märchen, die man ihr über Feen und Elfen erzählt hatte, die nachts, wenn niemand ihnen zusah, die schönsten Tänze vollführten. Sie wunderte sich, ob es wohl Nebelgeister waren, die dort ein nächtliches Fest feierten, und wie von einer geheimnisvollen Macht angezogen stieg sie aus dem Bett und ging leise zur Tür, um niemanden zu wecken. Sie trug nichts außer einem Nachthemd am Leibe und sie fror, sobald sie das Bett verließ. Dennoch öffnete sie leise die Tür und trat hinaus in die kalte Nacht. Sie schaute in den dichten Nebel, der über der Landschaft hing und ihr den Blick auf die vertraute Landschaft verwehrte. Im kalten, weißen Licht des vollen Mondes erblickte sie Nebelgeister, die zu einer, nur für sie hörbaren, Musik tanzten. Gebannt sah sie den wunderschönen, weißen, durchsichtig wirkenden Geschöpfen zu, und wieder war es die geheimnisvolle Macht, die sie weiterzog, hinaus in das dicke Grau, bis auch das Mädchen im Nachthemd vom Nebel umhüllt und vor den Augen anderer Menschen verborgen war. Als Lisa nun dastand, von Nebel umschlossen, da begannen sich plötzlich die Nebelschwaden um sie herum zu bewegen. Sie schlossen sich enger um sie, schmiegten sich an ihren Körper, wurden dichter und dichter, bis Lisa nicht mehr wusste, wo unten und wo oben war. Sie spürte keinen Boden mehr unter den Füßen und wusste nicht, wie lange sie schon hier im Nebel schwebte. Sie schloss die Augen vor Müdigkeit und ließ sich tragen. Als Lisa schon glaubte, sie würde wohl für immer im Nebel gefangen sein und erfrieren, wurden die Nebelschwaden um sie herum dünner und begannen sich aufzulösen. Sie entfernten sich von ihrem Körper und sie spürte den Boden wieder unter sich. Erleichtert öffnete sie die Augen, doch die Wiese, auf der sie nun stand, war nicht die vor ihrem Haus.
Es war auch keine andere Wiese, die sie kannte und es war keine dunkle Herbstnacht mehr. Die Wiese, auf der sie nun stand, war von einem wunderbaren, grünen Gras bewachsen und überall standen bunt blühende Blumen, deren Duft in einem leichten Lufthauch, der sanft über das wallende Gras strich, zu Lisa hinüber schwebte. Verwundert und eingenommen von der Schönheit der Welt, die es umgab, sah das Mädchen sich um. Sie sah, dass die Wiese von einem hellen freundlichen Wald umgeben war, der aus hohen Birken mit reiner, weißer Rinde und zarten, hellgrünen Blättern bestand, durch die die warme Frühlingssonne ihre Strahlen schickte, um alles zu wärmen. Zwischen den Bäumen entdeckte Lisa ein Bächlein, das fröhlich plätschernd unter den Birken dahinfloss. Angezogen von dem Funkeln und Rauschen des Wassers, das klar und rein über moosbewachsene Steine floss, lief sie darauf zu und begann entlang des Ufers zu spazieren.
Lisa ging weiter und weiter entlang des kleinen Baches und war von seiner Schönheit und seiner Melodie so eingenommen, dass sie nicht bemerkte, wie sich die Landschaft um sie herum zu ändern begann. Die zarten Birken wurden von kräftigen dunklen Fichten und Tannen verdrängt. Der Wald wurde dichter und durch das dicke Geäst der Bäume drang nur noch wenig Sonnenlicht bis zu dem Mädchen, das einsam dort am Ufer des Baches spazierte.
Langsam wurde es kälter und als Lisa ihren Blick vom Bach wendete und in den dunklen Wald blickte, der sie nun umgab, da fühlte sie, dass dieser Wald nicht fröhlich und liebenswürdig war wie das Birkenwäldchen, sondern mächtig und bedrohlich. Sie dachte, dass dieser Wald wohl die Heimat vieler zwielichtiger und hinterhältiger Kreaturen sein müsse. Bei diesem Gedanken bekam sie Angst, sie sehnte sich nach der Blumenwiese, auf der sie zuvor gewesen war, und begann zu laufen. Lisa folgte dem Bach in die Richtung, aus der sie gekommen war, solange bis ihre Füße sie nicht mehr trugen und sie vor Erschöpfung am Ufer des Bächleins zusammenbrach und einschlief. Während das Mädchen im feuchten Moos lag, schickte die Sonne einen Strahl durch das dichte Geäst genau auf die Stirn des Mädchens und es begann zu träumen.
Es träumte von einem ihrer Brüder, der seit Tagen mit hohem Fieber im Bett lag und weder aß noch sprach. In ihrem Traum jedoch war er gesund und sie spazierten gemeinsam über die Lichtung, auf der Lisa zuvor gewesen war. Sie sangen und lachten und freuten sich an den schönen Blumen und dem Gemurmel des Bächleins und der Schönheit des Birkenwäldchens. Doch plötzlich begann das Wäldchen zu brennen. Das Feuer breitete sich aus und griff nach den Kindern, die wie erstarrt dastanden und dem Feuer entgegenblickten. Lisa zitterte trotz der Hitze, aber das Feuer verschonte sie. Stattdessen griff es nach ihrem Bruder. Da änderte sich der Traum. Lisa sah ihren Bruder, doch sie stand nicht mehr neben ihm, sondern sie schien über ihm zu schweben. Er rannte einen Weg entlang, der durch einen dichten dunklen Wald führte, gejagt von einem riesigen Feuer, das immer größer wurde, während den Jungen die Kraft immer mehr verließ, bis er schließlich nur noch müde dahin stolperte. Da kam er an eine Wegkreuzung. Er blieb stehen und sah sich um. Links wurde der Wald lichter und der schmale Weg öffnete in einer großen Lichtung, auf der das Haus seiner Familie stand, rechts wurde der Weg immer schmäler und verschwand schließlich im Dunkel des Waldes. Lisa rief ihrem Bruder zu, er solle sich im Haus in Sicherheit bringen, aber er schien sie nicht zu hören, und als würde eine unsichtbare Macht ihn lenken, stolperte er auf den rechten Weg zu und begann wieder zu laufen. Der Weg verschwand und bald hörte er das Plätschern einer Quelle, die umgeben von hohen Eichen, im spärlichen Licht der Sonne glitzerte. Lisas Bruder rannte darauf zu, mit letzter Kraft versuchte er die Quelle zu erreichen, doch er stolperte und noch im Fallen rief er: „Hilf mir Lisa!! Lösche das Feuer!“. Dann hatte das Feuer ihn erreicht.
Die Sonne sank, der Strahl verschwand und Lisa wurde von einem unheimlichen Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Verwirrt von ihrem Traum schaute sie sich um. In der Luft lag ein Rauschen und Knacksen, und der Geruch nach verbranntem Holz legte sich schwer über das Mädchen. Lisa schaute starr vor Schreck und Entsetzen auf das zerstörerische Feuer, das den Wald zerfraß und bereits seine Flammen nach ihr ausstreckte. Wie zuvor im Traum ihr Bruder, begann nun auch sie zu laufen und folgte dem Bachlauf. In wilder Angst flüchtete sie vor dem Feuer, bis das Bächlein sich teilte und sie nicht wusste wohin. Links sah sie die Lichtung, die sie gesucht hatte, und dahinter zwischen den Birken und von dichtem Nebel umhüllt sah sie für einen kurzen Augenblick ihr Elternhaus. Doch dann dachte sie an ihren Bruder und wie er sie gebeten hatte das Feuer zu löschen, und plötzlich wusste Lisa, warum sie hier war und was sie tun musste. Ohne sich umzudrehen, folgte sie dem Bächlein, das nach links führte. Als sie schon fast am Ende ihrer Kraft war, sah sie die Quelle funkeln, unter dem grünen Laub der großen Eichen, die sie wie Wächter umstanden. Mit letzter Kraft schaffte sie es zu der Quelle. Sie beugte sich herunter und fing so viel Wasser auf wie in ihre kleinen Hände passte. Das Feuer war inzwischen schon fast bei ihr. Die Blätter der Eichen verdorrten in der sengenden Hitze und fielen braun zu Boden, und dort wo das Feuer auf das klare Wasser des Bächleins traf, stiegen dichte Nebelwolken empor. Als das Mädchen sich, mit dem Wasser in den zarten Kinderhänden aufrichtete, da erhob sich ein Sturm. Er wirbelte die braunen Blätter der Eichen in die Luft und hüllte Lisa in einen Mantel aus Nebel und Blättern, bis sie nicht mehr wusste, wo oben und wo unten war. Sie verlor den Boden unter den Füßen und ließ sich tragen, bis der Wind sie vor ihrer Haustür niedersetzte. Im gleichen Moment öffnete sich die Tür und Lisas Mutter kam heraus. In ihren Augen standen Tränen, „Lisa, dein Bruder…“. Da war Lisa bereits in das Haus geschlüpft. Sie lief zu dem Bett ihres kranken Bruders. Alle saßen um ihn herum und weinten, denn sie dachten, er wäre gestorben. Lisa aber beugte sich vorsichtig über ihn und benetzte seine Lippen mit dem letzten Rest Wasser, das in ihren Händen geblieben war. Da schlug er die Augen auf, und als er Lisa sah, umarmte er sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Danke, dass du das Feuer gelöscht hast!!“.
Die Familie lebte weiterhin glücklich, und als Lisa alt war und ihren Enkelkindern am Kaminfeuer Geschichten erzählte, so handelten diese oft von einer geheimnisvollen Welt, von Lichtungen und Bächlein und von einem zerstörerischen Feuer, das mit einem Tropfen Wasser aus einer Waldquelle gelöscht werden konnte, wenn es aus Liebe zu jemandem getan wurde.
Titelbild: Denny Muller/Unsplash